Tourenbuch
12/2000

Weber-Schäli Route
Keyfacts
Weber-Schäli RouteJungfrau Nordwand
Wir waren hungrig, unendlich motiviert – und vermutlich auch ein wenig naiv. Zumindest ich.
Wenn Ralf Weber, mein ehemaliger Mentor, mich früher anrief und einen Vorschlag machte, war ich eigentlich immer dabei. So auch am 6. Dezember 2000. Ralf hatte von seinem Zuhause in Spiez aus hoch oben in der Nordwand der Jungfrau einen schmalen Eisfall entdeckt.
Ralf, einer der aktivsten und talentiertesten Eiskletterer im Berner Oberland zu dieser Zeit und für Ralf konnte die Saison nie früh genug beginnen.
Also starteten wir vom Jungfraujoch in dieses Abenteuer und traversierten unterhalb der Nordwand der Jungfrau. Exponiertes Gelände – ein Ort, an dem man besser nicht stürzt, und das gleich von Beginn an. Unser Zustieg führte uns über den Giesengletscher in direkter Falllinie zu der dünnen Eisspur weit oben im Gipfelbereich. Wenn ich mir heute das Foto im SAC-Führer anschaue, scheint es, als wären wir im Bereich der heutigen Linien 207.4 oder 207.3 eingestiegen, egal.
Ich erinnere mich, dass wir in einem steilen Eisfeld starteten. Nach ein paar Seillängen wechselte das Gelände in steileres, kombiniertes Terrain – ausgesetzt und ernst. Gerade hinauf wurde es immer steiler, vermutlich senkrecht, und eine Seillänge erschien uns besonders schwierig und zeitaufwändig. Der logische Ausweg führte uns rechts, eher abdrängend, hinaus zur Nordwandrippe. Von dort ging es nach circa zwei Seillängen wieder leicht nach links, wo wir erneut auf unsere erkennbare Eislinie trafen, die sich für etwa zwei Seillängen durchzog.
Den oberen Teil der Tour erinnere ich besser – ich hatte ihn später noch einmal mit Lucien Caviezel über die Nordwandrippe gemacht. Damals konnten wir danach mit dem Gleitschirm direkt ins Tal zurückfliegen.
Bei unserer Begehung im Dezember 2000 wurde das Wetter zunehmend stürmisch. Es wurde bereits dunkel. In der letzten, flacher werdenden Seillänge – kurz vor dem Eisplateau der Jungfrau – war der Wind so stark, dass er mich plötzlich aus meiner geneigten Kletterposition aufrichtete, obwohl ich mit beiden Pickeln im Eis stand. Für einen Moment hatte ich Angst, das Gleichgewicht zu verlieren und rückwärts zu stürzen. Nach diesem Schock setzte ich rasch eine Eisschraube und kletterte mit äußerster Vorsicht die letzten Meter bis auf das flache Gletscherplateau der Wengener Jungfrau.
Für Gipfelfreude blieb keine Zeit – der Föhnsturm tobte nun in voller Stärke, und es war längst Nacht. Ralf entschied, dass wir ein Schneeloch graben sollten, um Schutz vor dem Sturm zu finden – in der Hoffnung, dass sich das Wetter beruhigen würde.
Ausgelaugt, dehydriert und müde, ohne Kocher oder Biwakmaterial, saßen wir in diesem Loch. Der Schnee war zu dünn, sodass wir bald auf Eis stießen. Das Loch bot kapp Windschutz. Wie lange wir dort saßen, weiß ich nicht mehr. Irgendwann war uns so kalt, dass wir uns einfach wieder bewegen mussten. Zum Glück hatte der Wind etwas nachgelassen. Dafür begann es nun kräftig zu schneien – dicke Flocken wie an Weihnachten.
Ralf entschied, dass wir über das Silbergrätli via Chly Silberhorn absteigen sollten. Dort konnten wir uns einfacher am Grat und der Nordwand entlang orientieren als auf dem weitläufigen Jungfraufirn. Denn wir hatten Angst im Whiteout und ohne Kompass auf dem grossen Gletscher das Jungfraujoch nicht mehr zu finden.
So stiegen wir die ganze Nacht über durch anspruchsvolles, ausgesetztes Gelände ab und wieder hinauf. Unterhalb der Mathildespitze wurde das Spuren im frischen Neuschnee zur zermürbenden Arbeit – und zunehmend lawinengefährlich. Unsere Kräfte waren am Ende – genauso wie die Batterien unserer Stirnlampen, die die ganze Nacht durchgehalten hatten.
Endlich erreichten wir das Plateau des Jungfraujochs. Doch im dichten Nebel und Schneetreiben fanden wir den Eingang zum sicheren Inneren nicht. Wir waren erschöpft, orientierungslos, suchten verzweifelt – bis wir plötzlich unterhalb der steilen Sphinx-Nordwand standen und an den Felsen erkannten, wo wir waren, falsch, jetzt sind wir zu weit östlich! Immer wieder versuchten Ralf und ich, mit der alten 1:25’000-Karte und ein paar Sekunden Stirnlampenlicht unsere Position zu bestimmen, bevor die Lampe endgültig versagte.
Wir waren völlig fertig, irrten umher – kurz vor dem rettenden Eingang, aber blind im Schneesturm. Plötzlich entdeckten wir im Schnee eine zugeschneite Holztür – Teil der Baustelle auf dem Joch. Was für eine Erleichterung! Endlich, zum ersten Mal, fielen wir uns in die Arme.
Fuck – was für ein Murks.
Diese Aktion werde ich nie vergessen! Es war eine der lehrreichsten – und naivsten – Erstbegehungen meines Lebens im Hochgebirge.
Mit Steigeisen an den Füßen stapften wir durch den Eispalast zur Café-Bar. Unsere komplett eingeschneite Kletterausrüstung ließen wir dort liegen und fielen todmüde auf die Sofas. Wenigen Stunden später wurden wir unsanft geweckt – vom wütenden Eismeister, der uns im tiefsten Berner Oberländer Dialekt beschimpfte. Ich erinnere mich nur noch an seinen großen Bauch, seinen Rauschebart – und daran, dass mir sein Zorn völlig egal war.
Klar, wir hatten den Eispalast mit Steigeisen zerkratzt, und wir entschuldigten uns. Aber wir waren einfach nur froh, wieder in der Zivilisation zu sein. Selbst dieser Donnerwetter wirkte auf einmal fast komisch – angesichts dessen, was wir in den letzten 20 Stunden durchgemacht hatten.